Biografie
Siegfried Kessemeier wurde 1930 als Sohn eines Glasmachers in Oeventrop/Sauerland geboren. Nach dem Abitur studierte er in München und Münster Geschichte, Germanistik, Philosophie und Publizistik. Auf seine Promotion folgte zunächst die Tätigkeit als freier Journalist in Münster. Er blieb der Stadt verbunden, zunächst von 1970 bis 1972 als leitender Redakteur der Zeitschrift Westfalenspiegel, als Geschäftsführer der Vereinigung westfälischer Museen und anschließend als Leiter der Abteilung Landesgeschichte des LWL-Museums für Kunst und Kultur. Als „begeisterter Museumsmann“ (Selbstzeugnis) realisierte er zahlreiche Ausstellungen und gab deren Begleitkataloge heraus. Die Begegnung mit Geschichte, Kunst und Literatur aus allen Epochen war für sein literarisches Schreiben mitbestimmend. Er starb 2011 in Münster.
Thematischer Bezugspunkt ‚Geschichte‘
Das Niederdeutsche war für Kessemeier kein Relikt der Heimat- oder Sprachpflege, sondern eine Kunstsprache, die ihm individuelle literarische Möglichkeiten eröffnete. In der damaligen westfälischen Mundartszene waren seine Verse formal und inhaltlich neu, weil sie sich historischen und politischen Themen öffneten, vor allem der Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus. An Geschichte faszinierte den Autor, wie er in einem Interview hervorhob, „vergangene Zeit, die nicht vergangen ist. Überall sind Spuren, überall sind Wunden, und die kann man nicht übersehen. Und Geschichte ist für mich Bleibendes, was weiter zu uns spricht“.
Orientierungen
Kessemeier grenzte sich bewusst von der traditionellen westfälischen Mundartdichtung ab: „Ich wollte nicht in die ‚Heimatszene‘. Ich wollte literarisches, zeitgenössisches Gestalten aus dem Wort – und eben auch aus dem Plattdeutschen.“ Vorbilder bot ihm die „Avantgarde“-Mundartszene mit Autoren wie H. C. Artmann, Gerhard Rühm, Eugen Gomringer, Kurt Marti und Ernst Jandl.
Veröffentlichungspraxis
Kessemeiers erste literarische Texte entstanden im Frühjahr 1961. Im Herbst 1965 stellte er sie auf einer Lesung der niederdeutschen Vereinigung Bevensen (nahe Uelzen/Niedersachsen) vor. Im selben Jahr erschienen erstmals zwei Gedichte Kessemeiers im Westfalenspiegel, der damals wichtigsten westfälischen Kulturzeitschrift. Über vier Jahrzehnte hielt der Autor diesem Publikationsforum die Treue. 1971 erschien seine erste Gedichtausgabe gloipe inner dör, nachdem Kessemeier bereits zwei Jahre zuvor den Förderpreis des Rottendorf-Preises für niederdeutsche Literatur erhalten hatte. Kessemeier veröffentlichte in der Folgezeit sehr zurückhaltend. Es erschienen lediglich noch zwei Gedichtbände (genk goiht, Münster, Selbstverlag, 1977, sowie Spur der Zeit. Landskop, Paderborn 1994). Umso häufiger war er in Zeitschriften, niederdeutschen Anthologien und Sammelwerken vertreten. Auf diesem Wege und auch als Rezensent blieb er in der niederdeutschen Literaturszene präsent. Dabei waren ihm vor allem die Kontakte zur norddeutschen Mundartszene wichtig.
Formale Gestaltung
Kessemeiers Verse zeichnen sich durch pointierte Kürze und gedankliche Präzision aus. Die Texte sind unprätentiös, fast spröde. Sie versachlichen und handeln ein Thema mit wenigen Worten ab. In der charakteristischen Miniatur (vergleichbar einem Foto) wird die Universalgeschichte im Miniaturbild, im Fragment, präsent. Das lyrische Ich beschränkt sich auf selektive Beobachtungen, in denen ein kritisches, oft bedrohliches Geschichts- und Gesellschaftsbild zum Ausdruck kommt.
Thematische Klarheit
Kessemeiers Erinnerungen an Kindheit und Jugend haftet stets das Gefühl des Verlusts an. Das damalige einfache Leben wird nicht nostalgisch verklärt, sondern authentisch widergespiegelt. Ein bleibendes Thema ist der Zweite Weltkrieg mit seinen Folgen bis in die Gegenwart. Kessemeiers Vorliebe für Visuelle Poesie und serielle Textverfahren kommt besonders in seinem Gedichtband genk goiht zum Ausdruck. Kessemeiers unpathetischer Umgang mit dem Niederdeutschen wurde für andere zum Vorbild: „Nachdem ich mein erstes Hörspiel auf Niederdeutsch geschrieben hatte, habe ich mich näher mit dieser Sprache beschäftigt und fand gerade bei Kessemeier und Johannimloh Versuche, das Niederdeutsche anders zu nutzen als nur umgangssprachlich, sondern eben literarisch. […] Damit habe ich mich beschäftigt. Das hat mich sehr beeinflusst.“ (Georg Bühren)
Charakteristisches Selbstzeugnis (1)
„Wenn ich in Mundart schreibe, ist das für mich eine Wirklichkeit, die nah und zugleich fern ist. Fern, weil ich seit langem nicht mehr dort zu Hause bin, wo diese Sprache gesprochen wird. Fern, weil Hochdeutsch als meine andere Sprache doch sehr bestimmend ist – im Alltag, im Beruf, im normalen Leben. Nah, weil Mundart unverlierbar zu mir gehört, zu meiner Herkunft, zu meiner Kindheit, zu dem, was für mich wesentlich und wichtig ist.“
Charakteristisches Selbstzeugnis (2)
„Worte sind für mich wichtig. Solche Worte, die die meinen sind. Und das sind eben auch plattdeutsche. Ich habe nie verstanden, daß es da Wertunterschiede geben soll. Plattdeutsch ist eine Sprache wie jede andere – trotz aller Korrumpierungen –, und darum gebrauche ich sie. – Als Autor verhehle ich nicht, daß sie für mich auch eine besondere Qualität hat: die lautlicher Eigenart und literarischer Unverbrauchtheit. – Aber was ist mit dem Verstehen, der Kommunikation? Ich schreibe Texte. Die Entzifferung ist nicht meine Sache. Meine Sache sind die Wörter, die Silben, die Artikulation. Ich gebe Sprachgebilde, nicht mehr. Andere müssen entdecken, ob es sich lohnt, sie zu entziffern.“