Biografie
Hermann Wette wurde 1857 als Sohn eines evangelischen Kaufmanns in Herbern (heute Ortsteil von Ascheberg) geboren. Er besuchte die dortige Rektoratsschule und seit 1871 das Gymnasium in Münster. Er setzte seine Ausbildung in Gaesdonk bei Goch (1871–1872), Münster (1872–1876), Bonn, München, Halle, Wien (1876–1881) und Köln (1881–1805) fort. 1880 wurde er in München zum Dr. med. promoviert. Im Jahr darauf heiratete er die ebenfalls schriftstellerisch tätige Adelheid Humperdinck, Schwester des Komponisten Engelbert Humperdinck. Beginn seiner ärztlichen Tätigkeit in Köln. 1909 wurde er dort zum Sanitätsrat (Spezialarzt für Ohren-, Hals- und Nasenkrankheiten) ernannt. Er lebte später in Eisenach und Darmstadt und starb 1919 in einer Heil- und Pflegeanstalt in Wiesloch bei Heidelberg.
Wette wurde 1913 als „bedeutendster Erzähler des Westfalenlandes“ bezeichnet, „jener Region, in der ‚auch die Helden seiner Romane wurzeln‘. Sein großangelegter Entwicklungsroman Krauskopf (drei Teile) schildert den Lebenslauf eines Westfalen von der Kindheit bis zum Eintritt in den ärztlichen Beruf. Die Vorzüge der ersten Bände: originelle und gewandte Sprache, anschauliche Schilderung von Land und Verhältnissen, scharfe Charakteristik interessanter Persönlichkeiten, tiefe Gedanken, gesunder Humor fehlen auch dem letzten Bande nicht“, heißt es bei Max Geißler. Das Urteil klammert die reaktionäre, national-konservative Gesinnung des Autors aus. Renate von Heydebrand zählt Wette zu den typischen Tendenzdichtern. Als Beispiel führt sie sein Drama Peter Schlemihl (1910) als Dokument chauvinistisch-rassistischer Verengung an: „Nur die deutschen Arbeiter sollen in den Genuß solcher Rechte und Vergünstigungen [Rentengüter für Fabrikarbeiter] kommen […] ‚Pollacken und Kroaten‘ dagegen, von charakterlosen Werbern ihrer eigenen Nationalität ins Land gelockt, werden als willige Handlanger des ausbeuterischen Kapitals und als schmutzige Rasseverderber von den national-sozialdemokratischen Arbeitern aus der proletarischen Solidarität weitgehend ausgeschlossen und vom Autor an die Seite der ruchlosen Spekulanten und jüdischen Finanziers gerückt.“
Wette debütierte literarisch 1884 mit Was der Wind erzählt. Poesien in niederdeutscher Mundart. Er verfasste in der Folgezeit Theaterstücke, Novellen, den erwähnten Roman Krauskopf sowie weitere Lyrikbände: Westfälische Gedichte (1. und 2., vermehrte Auflage 1896), Neue westfälische Gedichte (1909) und Pingsteblaumen. Neueste westfälische Gedichte (1910). 1914 ließ er Westfälische Kriegsgedichte und im Jahr darauf Ostara. Kriegsmysterium 1914/15 folgen.
Wette wurde in westfälischen Zusammenhängen besonders als Dialektdichter behandelt. 1965 gab Heinrich Luhmann Hermann Wette. Mauderspraok. Kleine Auswahl aus seinen Gedichten in der Kleinen Westfälischen Reihe des Westfälischen Heimatbundes heraus – ein besonders hervortretendes Beispiel für den unkritischen Umgang mit der Vergangenheit. Peter Bürger fasst zusammen: „Edition und Erforschung der älteren Mundartliteratur Westfalens lagen nach 1945 zunächst überwiegend in der Hand von Leuten, die unter der Flagge der westfälischen Stammesideologie schon früh der völkischen Weltanschauung zugearbeitet und sich dann auch zur Zeit des Faschismus in eben diesem Sinne betätigt hatten. In Form von Unterschlagungen bzw. Zensurakten und manipulierten Referaten über plattdeutsche Autoren wurde durch eine westfälische Kulturszene, in der man sich nach Ende des zweiten Weltkrieges gegenseitig ‚Persilscheine‘ ausstellte, förmlich Geschichtspolitik betrieben (z. B. durch: Bergenthal 1953) […] Man kann eben nicht immer guten Gewissens auf die Forschungen der Alten zurückgreifen, auch wenn deren ‚Evangelien‘ unzählige Male nachgebetet worden sind.“
Für Peter Bürger, der sich mit Wettes Kriegsdichtung beschäftigt hat, ist Wette ein „äußerst politischer Dichter“ im völkisch-rassistischen Kontext der Kaiserzeit. Die in münsterländer Mundart verfassten Westfälischen Kriegsgedichte wiesen ihn als Vertreter einer rechten Rassenideologie aus, die sich gleichwohl auf Gott berufe. Als Beispiel führt er das Gedicht De Wind as Krigsberichter an:
Englänner, Russen, Franzausen in Massen,
Japse, Inder, Turkos, Kärls von alle Rassen;
En Völkergemansch as Häksel un Kaff,
As Hott un Tott et dao dörnanner gaff.
De süs nao Härguods Willen för sik sölln bliwen,
De moß nu de Daud – of de Düwel – tausamen driwen.
Engländer, Russen, Franzosen in Massen,
Japsen, Inder, Türken, Kerls von allen Rassen;
Ein Völkergemisch wie „Häcksel und Kaff“,
Wie Hott und Tott es da durcheinander gab.
Die sonst nach Herrgotts Willen für sich sollen bleiben,
Die mußte nun der Tod – oder der Teufel – zusammen treiben.
„Als du futtgöngs, as du futtgöngs,
Satt Luft in’t Härt.
Nu du wiërkümms, nu du wiërkümms,
Häst Jammer un Pin dien Gewieten terriërten!“
Wu weh em dat in’t Härte klang,
Wat em de Swalf tau Hemkehr sang!
So bleek, so snao, so afgerieten,
Dat Tüg an’n Lif tau Pluëdden verflieten,
As wenn’t von de Landstrat en Stromer wör,
So staiht da vör de Nieeendör
Op sin oll Vaders Hof de Suhn,
De in de Früemde nicks nich sunn,
As dat de Lidenschop döt laigen,
De Lif un Seel us will bedraigen.
De Hof ligg da in Sunndagsruh,
In’t Dorp na de Vesper wörn se nu;
Büs op den Schulten, de sall der still
Alleen un las in de Handpostill. –
Dat wuß, de vör de Dör nu stonn
Un doch nich öwer de Süele konn.
De Hof ligg da in Sunnenschin,
Meet nicks von Jammer, Naut of Pin;
En Beld von Dur un Däftigkeit,
Von stille Burenkräftigkeit.
Lut obschrain mögg de Schultensuhn,
De nu as Lump vör de Diäldor stonn.
De Schult las von’n verlornen Suhn,
De sik wier trügg na Huse sunn.
De Vaderstimme sagg em vör:
Jans staiht da vör de Niggendör!
Wor week sin Hört, bleef hatt sin Kopp:
Verlornen Suhn niem’k nümmer op! – –
Män, mott doch saihn, wu süht he ut –
Da hör, dat was en Fraidenlut!
De olle Rüe, de stillkens flaip,
As Jans em sacht bi Namen raip,
Met Bliëken em an’n Lif was sprungen,
As wann’t sin Een un Alles wör.
Nu knaide vör de Nieendör
Un holl den Rüën fast umslungen
Mit beide Arms de Schultensuhn
In sine bangste Läbensstunn.
Da trät, no ümmer stramm un stur,
Op sine Süëll de olle Bur.
Sneewitt de Bart, sneewitt das Har,
De blaen Augen sunnenklar.
Den in de Knai, sin Suhn, kam’t vör,
Als wann da stönn en Priesterhär.
Gott weet, hier in Härten
Schrait de Rü,
Du möggs in min’ Smärten
Veriëwen mi!
Un hät dein Laif verloren,
De di as Suhn is geboren,
Nich in Vertwiflung woß driwen,
Lat, Vader, mit bi di bliwen:
Dainen wick di, wann di’t recht,
Dainen as Knecht! – –
De Vader ohne Wörde verstaiht,
Wat sinen Suhn dör die Seele gaiht.
Un doch will de Erlösungslut
Ut sinen Mund en nicht herut,
De stur und stupp versloten bliff – –
Büs das de Rüe em krüpp tau Fäuten,
As kännt he Suhn un Vaders Näuten,
Un streckt de Paut: Vergiff! Vergiff! – –
„Min Suhn!“ Min Vader! „Dat Gott erbarm!“
Da ligt sik Vader un Suhn in’n Arm.
Un bal das Leedken anners klung,
Dat’t trüe, laiwe Swälsken sung:
„Als du futtgöngs, as du futtgöngs,
Trock Trur in’t Hus.
Nu du wiër wiërbüs, nu du wiërbüs,
Sind Fraid un Fräden wiër trügge, wiër trügge!“
De sine Seelenpin verstönn,
Un den he alles bichten könn.
Doch kam kin Wort em op de Tung,
So hadder auk in Härten klung
De Jammer un de bittre Pin,
Dat he’n verlornen Suhn moß sin.
Män ut sin Aug dat daipe Leed
Ohn Wörde lut tau klagen weet:
Gott weet, ik häf rungen
Dag un Nacht,
Un doch nicht betwungen
De wilde Smacht.
Von Wiwer Arm ümfangen,
Un Wiwer Mund häf’k hangen
In Flammenglaut sin’k versunken,
Von raude Lippen häf’k drunken
Hiëmelsluft un Höllenaut,
Läben und Daut!
Un häf ik auk liëten
Büs opt Blaut,
Mi segg min Gewiëten
In Angst und Naut:
Nich würdig sin’k, tau heiten –
In alle Ewigkeiten –
Ik mott’t met Tränen bekennen,
Nich würdig, din Suhn mi tau nennen.
Vaders Namen sin’k nicht wärt,
Häf em entährt!
Literatur
Westfälische Gedichte. 1. und 2. Auflage Hamburg 1896
Der Bärenhäuter. Teufelsmärchen. Berlin, Köln, Leipzig 1897
Krauskopf. Ein Entwicklungsroman. 3 Bde. Leipzig 1903–1909; Neuaufl. Hamburg 1921
De Spökenkiker. Die Geschichte einer verirrten Menschenseele. Hamburg o. J.; Leipzig 1907
Neue westfälische Gedichte. Leipzig 1909; Neuaufl. Hamburg o. J.
Pingsteblaumen. Neueste westfälische Gedichte. Leipzig 1910
Peter Schlemihl. Modernes Teufelsmärchen in fünf Akten. Leipzig 1910
Wunderliche Heilige. Drei Novellen. Dresden 1912
Max Geißler: Führer durch die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts. Weimar 1913
Westfälische Kriegsgedichte. Jena 1914
Ostara. Kriegsmysterium 1914/15. Eisenach 1915
Renate von Heydebrand: Literatur in der Provinz Westfalen 1815–1945. Ein literar-historischer Modellentwurf. Münster 1983
Peter Bürger: Plattdeutsche Kriegsdichtung aus Westfalen 1914–1918. Karl Prümer – Hermann Wette – Karl Wagenfeld – Augustin Wibbelt. Eslohe 2012 (Online-Ausgabe)
Vollständige Biobibliografie siehe:
www.lexikon-westfaelischer-autorinnen-und-autoren.de/autoren/wette-hermann/