Biografie
Eli (eigentlich Elias) Marcus – Pseudonym „Natzohme“ – wurde 1854 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Münster geboren. Nach der Elementarschule und der Realschule besuchte er drei Jahre lang die „Privatpensionsanstalt für israelitische Knaben und Jünglinge“ des liberalen Rabbiners Professor Philipp Heidenheim in Sondershausen/Thüringen. Von 1870 bis 1872 absolvierte er eine kaufmännische Lehre in Bochum. Anschließend trat er in das elterliche Geschäft in Münster ein (Lederhandel, seit 1875 Schuhwarenhandlung), das er nach dem Tod seines Vaters (1890) mit seinem Bruder und nach dessen Tod allein weiterführte.
Die legendäre Zoologische Abendgesellschaft
Eli Marcus war Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts eine feste Größe in der lokalen Literaturszene. Er gehörte von Beginn an, seit 1881, der AZG (Zoologischen Abendgesellschaft) an, für die er gemeinsam mit weiteren ‚Husdichtern‘ plattdeutsche karnevalistische Possen schrieb, die mit großem Erfolg aufgeführt wurden und in denen er selbst als Schauspieler bejubelt wurde. Die Theaterstücke waren Kassenschlager und erlebten jeweils 15 bis 20 Aufführungen. Sie erfüllten hierdurch den vom Gründer der AZG, Hermann Landois, erdachten Zweck, Spenden für den Unterhalt des Zoos zu sammeln.
Inhaltlich waren die von der AZG aufgeführten Stücke eher stereotyp: ‚Trockene‘ Münsterländer werden auf burlesk-abenteuerliche Weise mit modernen Zeitereignissen und fernen Weltgegenden konfrontiert und müssen sich in für sie unvertrauten Situationen behaupten – natürlich stets tollpatschig und mit gutem Ausgang. Aber auch lokale Zustände wurden satirisch aufs Korn genommen. Der Umstand, dass Frauenrollen von Männern gespielt wurden, sorgte für zusätzliche Situationskomik. Die Fastnachtsspiele der AZG lösten im Münsterland und später auch in ganz Westfalen so große Begeisterung aus, dass sie als Pioniertat hinsichtlich der Verbreitung des Plattdeutschen und der Pflege der mundartlichen Literatur gewürdigt wurden.
Überregionale Wirkung
Der wachsende Erfolg dieser Volksstücke, die viel von ihrer Wirkung den Darstellern der AZG verdankten – darunter auch Eli Marcus in seiner Glanzrolle im Mester Tüntelpott (1895) – „führte[…] um die Jahrhundertwende zur Bildung mehrerer Gesellschaften im Münsterland, die mit eigens verfassten Volksstücken nach dem Vorbild der Münsterschen AZG großen Beifall ernteten“ (Gisela Weiß).
Marcus’ Beliebtheit ist durch Zeitungsnotizen bezeugt. Er wurde von westfälischen Vereinen eingeladen, unter anderem zu plattdeutschen Abenden, um dort als „vorzüglicher Interpret seiner Dichtungen“ aufzutreten. In seiner Heimatstadt engagierte sich Eli Marcus in verschiedenen Vereinen und Organisationen, so im Verein für die Abwehr von Antisemitismus und im Verein für jüdische Geschichte und Literatur, dessen 2. Vorsitzender er war. Die AZG hatte, wohl nicht zuletzt durch ihn, von allen Vereinen in Münster, die Juden zuließen, die größte Anzahl jüdischer Mitglieder. Seit 1910 gehörte Marcus zudem dem Plattdeutschen Verein an.
Der Lyriker
Nach der Jahrhundertwende wandte sich Eli Marcus, ohne die Theaterarbeit vollständig aufzugeben, vermehrt der Lyrik zu. Veröffentlichungsmöglichkeiten boten sich ihm in der Lokalpresse und in Heimatblättern wie dem von Augustin Wibbelt redigierten westfälischen Volkskalender De Kiepenkerl. Marcus gab zwischen 1902 und 1924 mehrere unterhaltsame Bändchen heraus, darunter 1913 Sunnenblomen. Dichtungen in der Mundart des Münsterlandes. Die Kritik bescheinigte, dass er spätestens mit diesem Titel „seinen Platz unter den größeren westfälischen Lyrikern erobert“ habe (Julian Voloj). In zeitgenössischen Zeugnissen werden besonders sein ‚Patriotismus‘ und seine ‚echte Heimatliebe‘ herausgestellt. Eine andere Stimme stellt die „reiche Fülle fein abgetönter, tiefempfundener lyrischer Stimmungsbilder“ heraus, die den Verfasser in eine Reihe mit „bemerkenswerten westfälischen Dichtern“ stelle: „Sonniger Humor, der sich zu tollem Uebermut steigert, lebt in vielen seiner Schöpfungen, neckische Schelmerei huscht durch seine Liebesgedichte, tiefer Ernst erfüllt seine Stimmungsbilder, düstere Stoffe aus dem Bauernleben bilden den Inhalt seiner Balladen.“ (Zitiert nach ebd.) Im damaligen Handbuch zur Geschichte der plattdeutschen Literatur werden Marcus’ niederdeutsche Theaterstücke und Gedichte „zu den besten“ ihrer Art gezählt (ebd.).
Rückzug aus der Öffentlichkeit
Nachdem sein Sohn im Ersten Weltkrieg gefallen war, gab Eli Marcus 1917 sein Schuhgeschäft am Roggenmarkt auf. Um 1919 zog er sich mehr und mehr aus der Öffentlichkeit zurück und beendete die aktive Mitgliedschaft in der AZG. Seine Bühnenstücke blieben jedoch im Repertoire. Auch seine plattdeutsche Lyrik wurde weiterhin geschätzt. Seit 1920 betrieb er in Münster ein Antiquitätengeschäft. Durch die Inflation verlor er wenig später sein gesamtes Vermögen und stand vor dem wirtschaftlichen Ruin. 1924, zu seinem 70. Geburtstag, wurde seine Bedeutung für die Entwicklung des westfälischen Platt umfassend gewürdigt. Es sei unter anderem Eli Marcus zu verdanken, dass „unser gutes kerniges Plattdeutsch […] nicht ganz ausgestorben“ sei (vgl. Voloj). „Nur wenige unserer einheimischen plattdeutschen Dichter sind im weiten Münsterland und darüber hinaus zu solch volkstümlicher Bedeutung gelangt wie Eli Marcus.“ (Ebd.) In der NS-Zeit wurde Marcus’ Werk boykottiert. Der Autor wurde in seinen Rechten eingeschränkt und bedroht. Bis 1945 durfte keines seiner Theaterstücke mehr aufgeführt werden. Sein 80. Geburtstag blieb in der Presse unerwähnt. Eli Marcus starb 1935 in Münster. Nach Kriegsende führte die AZG 1946 wieder zwei seiner Einakter auf. 1961 wurde eine kleine Straße in Münster-Kinderhaus nach ihm benannt.
Aktuelle Würdigungen
Siegfried Kessemeier, einer der besten Kenner der westfälischen Mundart, resümiert: „Es lohnt sich, an diesen Autor zu erinnern, weil er als Theaterautor und Lyriker etwas durchaus Eigenes zur niederdeutschen Literatur und Kommunikation beisteuerte.“ Als Angehöriger der gleichen Generation wie Hermann Wette und Augustin Wibbelt zähle er zu den bekanntesten Vertretern der westfälischen Mundartliteratur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Er hebt den Umstand heraus, dass Marcus schon in den 1880er Jahren in allen wichtigen Westfalen-Anthologien vertreten war und über Westfalen hinaus – z. B. 1906 bis 1910 in der Zeitschrift Niedersachsen – wahrgenommen wurde. 2003 erschien nach langer Zeit wieder eine Auswahl aus Marcus’ Werk, verbunden mit einem Lebensbild: Manfred Schneider, Julian Voloj: Eli Marcus. Ick weet en Land. Ausgewählte Texte und ein Lebensbild.