Auf einer der so rar gewordenen stillen Straßen, die den ursprünglichen Charakter der Villenkolonie Grunewald bis auf den heutigen Tag zu wahren versucht haben, traf ich auf seinem Bestellgang meinen Freund, den Briefträger Thaddäus Thymian. Postboten und Eisenbahner sind in der Regel sympathische Leute. Tagaus, tagein verrichten sie im Interesse der menschlichen Gesellschaft eine nutzbringende Tätigkeit, was von manchem anderen Beamten anzunehmen übertrieben oder gar vermessen wäre. Aber vielleicht kann das der beschränkte Untertanenverstand des Staatsbürgers gar nicht beurteilen. Wir schimpfen ja auch auf das Finanzamt, obwohl es nur die Steuern veranlagt und beitreibt, die durch das Parlament Gesetzeskraft erhielten, dessen Abgeordnete wir selbst gewählt haben.
An diesem paradiesischen Frühsommermorgen jedoch wäre es viel zu schade gewesen, über das massive Unrecht nachzudenken, dem wir so häufig hilf- und wehrlos von Kindesbeinen an samt und sonders zu meinem größten persönlichen Leidwesen ausgesetzt sind.
Gegen Morgen hatte es leicht geregnet. Die Luft war deswegen beinahe so rein und frisch wie am frühen Vormittag in einem abgelegenen märkischen Kiefernwald, dem industrielle Abgase und die mephitischen Düfte von Otto- und Dieselkraftstoff noch fremder geblieben waren als dem typischen deutschen Herrenmenschen die Fähigkeit, sich im Ausland durch konziliantes und reserviertes Benehmen beliebt zu machen.
An diesem heiteren Sommertag also traf ich Thaddäus Thymian.
„Guten Tag“, sagte ich, „guten Tag, Thaddäus!“
„Guten Tag, Popanz!“ antwortete er mit einem zwar beherrschten, aber immerhin noch verspürbaren leichten Anflug von Malaise. Auch sein Händedruck war nicht ganz so herzhaft und kräftig wie sonst. Vielleicht war ihm eine Laus über die Leber gekrochen. Vielleicht behagten ihm die ehelichen Freuden nicht mehr. Vielleicht hatte er sich auch nur die Blase erkältet. Möglicherweise gab es vielleicht aber auch gar keinen plausiblen Grund für die Störung seines Wohlbehagens. Die schlechte Laune war eben da, und manche Leute haben es durch mangelnde Selbstzucht, grobe Ungezogenheit, heuchlerisches Duckmäusertum und durch nicht überbietbaren Egoismus zu einer geradezu erstaunlichen Virtuosität gebracht, sich selbst und anderen die kurzen Tage dieses Daseins zum Fegefeuer zu machen. Zu dieser Sorte übler Zeitgenossen gehörte Thaddäus Thymian jedoch nicht. Nein, ganz im Gegenteil und auch durch die Tatsache, daß er sonst allenthalben eigentlich nach dem behelfsmäßigen Berliner Personalausweis auf den weniger klangvoll lautenden Namen Tübbicke, Friedrich Wilhelm Tübbicke, geboren am 14. November 1898 zu Wendisch-Kotzebandt in der Mark, hörte, erfuhr seine allgemeine Beliebtheit keinerlei Minderung.
Was mich betrifft, so gehöre ich vermutlich zu den skurrilen, knorrigen, abseitigen, obsoleten und im zwanzigsten Jahrhundert immer tiefer ins Hintertreffen geratenen Naturen, die Wichtigtuerei für lächerlich, Klassen- und Standesdünkel für kindisch und angeberischen Geltungsdrang für schizophren halten. In Schema und Schablone wittere ich Boten und Begleiter eines rapiden Abstiegs, während mir aus dem Urwüchsigen und Ursprünglichen das Lebfrische und Vitale rau und wurzelecht so gesund entgegenwehen, wie immer, wenn ich den Mann traf, der Zahlungsbefehle und Liebesbriefe, Pfändungs- und Überweisungsbeschlüsse, Geburts- und Todesanzeigen, viel zu hohe Rechnungen und raubrittermäßige Steuerveranlagungen, weitschweifige Gazetten und anderes gänzlich überflüssiges Gehabe mit Verlobungs- und Vermählungsanzeigen und ähnlichen wilden Bocksprüngen willkürlich durchsetzt, den oft bedauernswerten Empfängern mit stoischer Gelassenheit und klassischem Gleichmut zustellte.
„Das dürfte ihm auch nicht schwerfallen“, werden Sie möglicherweise einwerfen, „denn der Inhalt aller papierner Sendungen geht den Überbringer ja gar nichts an, da er ihn ja nicht betrifft, ja er darf ihn nicht einmal interessieren!“
Ich muß Ihnen natürlich Recht geben, aber es scheint, als wenn ein ziemlich hoher Prozentsatz der weiblichen und männlichen Repräsentanten jeden Alters und aller Stände und Berufe sich unbefugt aus purer Neugier, krankhafter Klatschsucht oder hundsgemeiner Bosheit lieber mit dem privaten Tun und Treiben seiner Mitmenschen befaßt als mit seinen eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten. Vielleicht beziehen jene, die es angeht, hohe Gehälter, und sie haben sonst und außerdem nichts oder fast gar nichts zu tun, vielleicht wissen sie auch mit sich selbst und mit ihrer reichlich bemessenen freien Zeit nichts Gescheites anzufangen. Hohlheit und Müßiggang führten immer noch auf verderbliche Abwege.
Dies vorausgeschickt und mehr oder weniger treffend bemerkt, konnte nach meiner Ansicht nur der Name Thaddäus Thymian dem wahren inneren Wert und dem wirklichen Wesen unseres Freundes einigermaßen gerecht werden. Jede Begegnung mit ihm stärkte in mir die Richtigkeit meiner Annahme, bis sie schließlich eine durch nichts mehr zu erschütternde Überzeugungskraft gewann. Natürlich war ich mir völlig klar darüber, daß die Masse, die alles nachzuäffen, nachzuplappern und zu profanieren pflegt, meinen Thaddäus Thymian verkannte und ihn mit einem anderen, vielleicht sogar fiktiven Namen apostrophierte. Aus einem Wasserstrahl wurde der Fabeldichter La Fontaine, aus Arouet Voltaire, Uljanow nannte sich Lenin, Dschugaschwili Stalin, Schicklgruber Hitler, und bis vor kurzem lebte auf der Rugge-Straße im westfälischen, vielleicht früher einmal etwas windigen Wiegbold Oelde, – sonst gleichermaßen ausgezeichnet durch die Schönheit seiner Lage, seiner lauschigen Stiegen, gepflegten Häuser und Gärten wie durch den Ordnungssinn und den Gewerbefleiß seiner Bürger – ein biederer Drechslermeister, Georg Eselgrimm benamset. Haben Sie schon einmal einen grimmigen Esel gesehen oder etwas Verläßliches von ihm gehört? Ich nicht und Sie auch nicht.
Der Mann und seine Sippe hießen aber auch gar nicht Eselgrimm, sondern hörten von Rechts wegen auf den ebenso einprägsamen wie wohlklingenden Namen Isegrim, was, wie Sie wissen, so viel wie Wolf bedeutet. Der beamtete Schreiber, der vor etlichen hundert Jahren das erste Namensmatrikel mehr schlecht als recht anlegte, kannte weder den Reineke Voss, noch hielt er es für nötig, dem Volke aufs Maul zu schauen, um mit Martin Luther zu sprechen, und wie es seine Amtspflicht gewesen wäre.
Auf jeden Fall tragen – seit einem halben Jahrtausend oder länger – Generationen von Eselgrimms zu Unrecht ihren durch besagten Federfuchser verschuldeten und verbalhornten falschen Namen, der aus dem Wolf einen Esel macht, und – bitte mit einer Atempause als gehörigem Flankierbaum zwischen zwei langohrigen Artgenossen – den letzten echten und rechten Schulten zu Ennigerloh nennen und kennen die Mehrsten nur unter dem Namen Rottendorf.
Wissen wir überhaupt, wer und was wir sind?
Wissen wir, ob wir den richtigen, angemessenen und zutreffenden Namen tragen?
Die dickliche Metzgersfrau und die ranke, bildhübsche Verkäuferin im Bäckerladen nebenan reden uns gleichermaßen mit „Herr“ an. Sind wir denn etwa wenigstens Herr über uns selbst? Wer kennt sich zudem – wenn auch nur ganz oberflächlich – in sich selbst hundertprozentig aus? Ich nicht, Sie etwa?
Mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit darf das wohl verneint werden, denn unsere Kritiklosigkeit den Menschen, den Dingen und uns selbst gegenüber läßt felsenfest zu stehen scheinen, was tatsächlich objektiv höchst fragwürdig und mürbe ist, während unsere Kurzsichtigkeit die klarsten und markantesten Konturen wenn überhaupt, so doch nur ganz verschwommen erkennen kann.
Nachdem mir Thaddäus Thymian an einem einzigen Tage dreimal über den Weg gelaufen war, nahm ich mir fest vor, bei nächster sich bietender Gelegenheit das längst fällige klärende Gespräch mit dem Stephansjünger zu führen. Es verlief wie folgt:
Ich, etwas zaghaft: „Guten Morgen! Verzeihen Sie bitte, sind Sie nicht Thaddäus Thymian?“
Er, schroff: „Nein!“
Ich: „Schade.“
Er: „Warum?“
Ich, beherzt: „Ich glaubte immer, daß Sie es wären. Wollen wir es nicht dabei belassen?“
Er: „Glänzend! Sie kommen meinen geheimsten Wünschen weit entgegen. Ich mußte mir nämlich immer schon auf die Zunge beißen, daß ich Sie nicht mit General titulierte, wenn ich Sie sah. Und das passierte häufiger, als es mir lieb war. Machen wir also ein Gegengeschäft. Sie nennen mich meinethalben Thaddäus Thymian und ich Sie General.“
Ich: „Aber entschuldigen Sie gütigst, das bin ich ja in meinem Leben nie gewesen.“
Er: „Stolpern wir nicht über derlei Zwirnsfäden! Sie ahnen ja gar nicht, wieviel Leute Rang und Titel tragen, die ihnen auch bei allem Wohlwollen und bei größter Nachsicht für Menschliches Allzumenschliches selbst dann nicht zukommen, wenn man in franziskanischer Bedürfnislosigkeit auf jeglichen Komfort verzichtet. Übrigens sehen Sie genau so aus, wie ich mir einen General immer vorgestellt habe.“
Ich: „So verkalkt?“
Er: „Nein, so vertrottelt.“
Ich: „Was im Grunde genommen ein und dasselbe ist.“
Er, leicht indigniert: „Das weiß ich auch, aber ich bediene mich dieser feinen Nuancen gewissermaßen als Ausgleich und Prellbock gegen die Brutalität der Vermassung, der wir täglich allerorts ausgesetzt sind.“
Ich, überspielt: „Sie sind scharfsinnig und offenherzig. Sie gefallen mir.“
Er, hintergründig und etwas zweideutig: „Sie mir auch.“
Wir schüttelten uns lachend die Hand, und das Gentleman’s Agreement war rechtskräftig geworden.
„Auf Wiedersehen, Thaddäus Thymian,“ sagte ich. „Waidmannsheil, General,“ antwortete er. (…)
Der ganze Kram unserer wetterwendischen Unlogik paßte mir eines Tages nicht mehr. Verzeihen Sie bitte, aber ich hatte den Kanal restlos voll und beschloß, mit Krieg und Kommiß, mit Raketen und Generalen endlich einmal definitiv Schluß zu machen und damit schlagartig und energiegeladen bei mir selbst sofort anzufangen.
Gesagt, getan.
Die grüne, etwas altersschwache und wackelige Bank, die im lauschigen, zeitweilig noch so angenehm stillen Hasensprung neben der Brücke steht, auf deren Brüstung sich zwei steinerne Mümmelmänner im flotten Tempo begegnen, denen die rüdige Hand böser Buben die in der Natur so possierlich wirkende, neckische Blume arg gestutzt hat, diese besagte grüne, etwas wackelige Bank wurde nach dem üblichen „How do You do?“ Zeugin des hier wiedergegebenen Zwiegesprächs.
Ich, etwas abrupt: „Das mit dem General paßt mir nicht mehr, denn
1. bin ich nur kümmerlicher Stabsoffizier gewesen, und
2. ist mir jeder Titel überhaupt und in der Seele zuwider.“
3. Thaddäus Thymian ungehalten: „Mir ist mitunter das ganze Dasein contre coeur, aber abgemacht ist abgemacht, und außerdem haben Sie an einem einzigen Wochentag im Kriege mit mehr Generalen zu tun gehabt als ich in meinem ganzen Leben mit Lavendel, Myrth’ und Thymian. Trotzdem bin ich weiterhin mit Thaddäus Thymian einverstanden. Ich hätte auch nichts gegen meinethalben Tobias Tatzelwurm einzuwenden, wenn Sie mich damals darum gebeten hätten.“
Ich, einlenkend: „Ich habe viele Fehler. Einer von ihnen ist meine übergroße Gewissenhaftigkeit. Selbstverständlich kann unsere Absprache, wenn überhaupt, dann nur im beiderseitigen Einvernehmen eine zeitgemäße Anpassung an die geänderten Verhältnisse erfahren. Eine etwaige Abwandlung dürfte jedoch keinesfalls gegen Sinn und Absicht unserer ursprünglichen Abmachung verstoßen.“
Thaddäus Thymian, schon freundlicher: „Ich freue mich, daß Sie nicht wie der Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg einen Vertrag für einen Fetzen Papier halten.“
Ich: „Wie wollen wir verbleiben?“
Thaddäus Thymian: „Von mir aus überhaupt nicht. Der General gefällt und genügt mir vollauf, und wenn Sie mir den Spaß nicht ganz verderben wollen, müssen Sie schon etwas Besseres und Prägnanteres mit zwei, höchstens drei Silben vorschlagen. Dann werden wir sehen, was sich tun läßt.“
Ich: „Wollen Sie mir bei der Suche nicht helfen?“
Thaddäus Thymian: „Das nennt man dreist und gottesfürchtig. Ich will mir die Sache durch den Kopf gehen lassen.“
Ich: „Vielen, vielen Dank! Wann darf ich Sie wiedersehen?“ Thaddäus Thymian: „In drei Tagen, zur gleichen Zeit hier im Hasensprung.“
„D’accord“ sagte ich, „O. K.“ bekräftigte Thaddäus Thymian, und beschlossen wurde unser Treffen mit einem vernehmlichen „Charascho“, denn schließlich ist ja Berlin kein verträumtes und verwunschenes Bierdorf, sondern eine Viersektorenstadt, geplagt, ausgeblutet und zerschunden, jedoch voll freiheitlichen Selbstbehauptungswillens.
Nach drei Tagen auf derselben grünen, etwas wackeligen Bank neben der Hasensprungbrücke:
Thaddäus Thymian: „Mir ist noch nichts Gescheites eingefallen.“
Ich: „Das geht mir schon seit langen Jahren so. Das fällt heutzutage niemandem mehr auf.“
Thaddäus Thymian, das Gesagte überhörend: „Zuerst dachte ich, Gefreiter, dreisilbig, wäre vielleicht ganz passend, aber dann sah ich plötzlich alles braun in braun, und mir wurde speiübel. Dann schoß mir Stabschef mit zwei Silben durch mein überstrapaziertes Gehirn, jedoch wegen Röhm und allen – gelinde gesagt – Unziemlichkeiten drum und dran kam auch dieser Geistesblitz bei mir nicht zum Zuge.“
Ich: „Das ist mir auch viel lieber. Wir wollen überhaupt das anständige alte Kommiß und erst recht die sehr unterschiedlich zu beurteilenden braunen und schwarzen halbmilitärischen Verbände aus dem Spiel lassen.“
Thaddäus Thymian: „Daher hatte ich auch schon den allerdings wieder dreisilbigen Minister in Betracht gezogen. Einige Bedenken hätte ich vielleicht überwunden, wenngleich manchem Minister völlig entfallen zu sein scheint – oder hat er es nie gewußt? –, daß Minister die lateinische Übersetzung des gutdeutschen Wortes Diener ist. Bismarck nannte sich noch mit Stolz den Diener seines Herrn. Das ist etwa siebzig Jahre her, und heute sind die freien Männer Domestiken eines überdimensional aufgeblähten Staatsapparates geworden, der von der Ministerialbürokratie beherrscht wird. Und da man mit dem Pfunde nicht mehr wucherte und das Scherflein der Witwe mit vollen Händen bedenkenlos vertat, behaftete die rächende Nemesis alle jene vom Volke beauftragten rechtskundigen und -unkundigen Stadt- und Staatsschreiber, die träge und selbstsüchtig vergaßen, daß sie zum sparsamen, bescheidenen und uneigennützigen Dienste am Ganzen engagiert sind, mit einer typischen Berufskrankheit: Sie bekommen den Star.“
Ich: „Einen Vogel?“
Thaddäus Thymian: „Das wäre nichts Besonderes, nichts ausgesprochen Ministerhaftes, denn einen Vogel haben wir doch mehr oder weniger alle als untrügliches Symptom der Entartung einer dekadenten Zivilisation. Nein, nein, das ist es nicht, es ist viel, viel schlimmer, wenn zum Beispiel schon der Leiter der Verwaltung einer in jeder Beziehung unbedeutenden Kleinstadt, der sich hoffärtig und stolz Stadtdirektor nennt, mit fast völliger Blindheit geschlagen wird, daß seine Augen jegliche Akkomodationsfähigkeit verlieren.“
Ich: „Wie äußert sich dieser krankhafte Zustand denn?“
Thaddäus Thymian: „Die Infizierten sehen sich selbst in doppelter Überlebensgröße, halten schematischen Bürokram für hohe staatsmännische Kunst und schauen auf ihre nähere und weitere Umgebung mit Nonchalance oder gar Mißachtung herab.“
Ich: „Fällt das denn niemandem mehr auf?“
Thaddäus Thymian: „Schau tiefer, sagt Gautama Buddha! Der billige Jakob berufsmäßiger Meinungsmacherei pflegt unsere sündhafte Gleichgültigkeit gegen himmelschreiendes Unrecht, gegen Raub, Mord, Diebstahl, Plünderung und Totschlag als von der Vorsehung zugelassen oder gar von Gott gewollt zu bezeichnen, wenn die Verbrechen von Amts wegen befohlen werden. Wir dulden sie, wir wehren uns nicht und brüsten uns im gleichen Atemzuge unseres freien Willens und unseres technischen Fortschritts. Dabei denke ich nicht einmal an die verkommenen Subjekte, asozialen Elemente und Gewaltverbrecher, die Beispiel und Vorbild einer unsittlichen Regierung oder Behörde – auf Rotwelsch gesagt – als treffliche Annonce ansehen.“
Ich: „Was Sie hier ausführen, klingt mir zu pessimistisch.“ Thaddäus Thymian: „Ich wollte und wünschte, Sie hätten Recht. Aber bedenken Sie bitte, daß Deutschland es fertiggebracht hat, in einer einzigen Generation, nämlich innerhalb von dreißig Jahren, zwei Weltkriege zu verlieren, den ersten mit Pauken und Trompeten und den zweiten mit Eichenlaub und Schwertern und zu Pferde. Glauben Sie vielleicht, ich hätte Lust, in einen dritten hineinzuschliddern?“
Ich: „Mir – und ich glaube auch vielen anderen – wäre es erwünscht, wenn die auswärtige Politik bald von einem Vereinten Europa gemacht und gesteuert würde. Seit Bismarcks Zeiten haben wir einen échec nach dem anderen erlitten.“
Thaddäus Thymian: „Sie kennen doch das kleine Malheurchen aus der Wilhelmstraße?“
Ich: „Nein!“
Thaddäus Thymian: „Ein Fräulein vom Auswärtigen Amt hatte ein Kind bekommen. Das ist bis heute das Einzige, was dort Hand und Fuß hatte und innerhalb von neun Monaten fertig wurde.“
Ich: „Nur in der Wilhelmstraße oder vielleicht auch in Bonn?“
Thaddäus Thymian: „Denken Sie an Jagow: Ich warne Neugierige!“
Ich: „Haben Sie Angst?“
Thaddäus Thymian: „Nein, ich handle ja in Wahrnehmung berechtigter Interessen, denn für das Versagen der Regierung mußte immer das Volk geradestehen, und daß ich zum Volk gehöre, wird von niemandem ernstlich bestritten werden können.“
Ich, ganz aufgeregt herausplatzend: „Ich hab’s: – Popanz – zwei Silben – keine Widerrede!“
Thaddäus Thymian, freudig erregt und hell begeistert: „Bravo, General Popanz!“
Ich: „Keine Anzüglichkeiten bitte.“
Thaddäus Thymian: „Dann Doktor Popanz.“
Ich: „Lassen wir das, es wäre ebenso ungehörig wie unpassend. Der Doktor ist bei dem zweibeinigen (Human-) und beim vierbeinigen (Vet.-) Mediziner zur Berufsbezeichnung geworden, gleichgültig, ob er promoviert hat oder nicht. Die ehrenwerten Vertreter aller anderen Fakultäten sollten jedoch aus Takt und Anstand ihren etwaigen akademischen Grad, wenn überhaupt, dann hinter ihren Familiennamen setzen, wie dies die konservativen Angelsachsen auch heute noch tun und wie es im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation Jahrhunderte hindurch zum selbstverständlichen guten Ton gehörte.
Ein Angehöriger meines Hauses, der Kaiserliche Pfalzgraf Bernhard Rottendorff[1], besaß Brief und Siegel für das jus promotionis. Rottendorff war ein gesuchter Modearzt seiner Zeit und mit dem Nuntius Fabio Chigi, dem späteren Papste Alexander VII., eng befreundet, der dem angeblich berühmten und gelehrten freien Mann ein neckisches Gedicht widmete, worin er ihn nach Strich und Faden anpflaumt. Kurzum, was besagter Rottendorff von seiner eigenen Doktormacherei hielt, gab seine gequälte Seele in einem lateinischen Gedicht Luft, dessen Überschrift lautet: QUISQUE ANUS DOCTORANDUS.
Leider ist das Poem am 1. März 1943 in Berlin-Schmargendorf bei dem bis dahin schwersten Bombenangriff auf die Reichshauptstadt verbrannt, doch besitze ich noch eine niederdeutsche Übersetzung, die in unmißverständlicher Deutlichkeit und mit anatomischer Gründlichkeit die menschliche Eitelkeit, Prahlsucht und Torheit in Ursache und Wirkung zerlegt.“ Thaddäus Thymian: „Ein langer Sermon. Was ist Ihre Meinung?“
Ich: „Ich bin viel toleranter. Ich lasse jeden nach seiner eigenen Façon selig werden, die er nötig zu haben glaubt oder die ihm Spaß macht. Das Hobby darf jedoch nie so weit gehen, daß ein Doktorhütlein auf dem Kopf seines Trägers, auch wenn er nur andeutungsweise vorhanden sein sollte, jenen chronischen Dachschaden bewirkt, den das klassische Hellas als pathologische Hybris bezeichnet.
Ein Epitheton erfüllt überdies seinen Zweck nur bei einem kräftigen Substantiv, sonst steht es bemitleidenswert unselbständig und absolut bedeutungslos in der trübseligen Enge des Raumes, in der irgendwelche nennenswerte Substanz nicht mehr erkennbar ist.
Was soll man schließlich und endlich noch dazu sagen, wenn irgendein Baccalaureus oder Magister oder Lizentiat oder Doktor eine x-beliebige andere Mittelmäßigkeit mit Herr Baccalareus oder Herr Magister oder Herr Lizentiat oder Herr Doktor anredet? Das Analoge tun ja selbst in Deutschland nicht einmal die hochgelahrten Professoren, obwohl sie sonst hierzulande gern allerlei Ungereimtheiten mitmachen. Ich würde es unglaublich verbogen finden, wenn ein Kompanieoffizier den anderen in und außer Dienst mit „Herr Leutnant“ apostrophieren würde, obzwar dieser Dienstgrad beim Kaiserlichen Hofe den gleichen Rang wie den des Rates vierter Güte einnahm, während der nackte Doktor nicht mal unter „ferner liefen“ zu finden war und daher ausnahmsweise in diesem Brevier menschlicher Eitelkeiten übergangen wurde. So können – objektiv betrachtet und positiv bewertet – Hofmarschallämter und Insinuationen recht nützliche Hinweise und ungewollt effektive Vorleistungen liefern, denn wo echte menschliche Würde – die heilige Humanitas – sich selbst in der Waage und alles im Lot hält, entkleidet sich die Persönlichkeit ganz von selbst des überflüssigen Beiwerks.
Granit und Marmor brauchen keinen Anstrich. Und keinen Firnis.“
Mit „Sie Popanz!“ beendete Thaddäus Thymian kurz und bündig unsere heutige Arbeitssitzung. Wir erhoben uns von der grünen, etwas wackeligen Bank und besiegelten unsere im beiderseitigen Einvernehmen erzielte Abänderung einer bereits bestehenden Abmachung mit einem kräftigen Handschlag, der unter freien Männern einer vernünftigen Übereinkunft mehr Rechtskraft und Weihe verleiht, als jemals in den von ausgekochten Paragraphenreitern raffiniert ausgeklügelten Kontrakten und Staatsverträgen, auch unter Zuhilfenahme beliebter Vergrößerungsgläser, aufgefunden werden kann.
Um Störungen in unserem seelischen und körperlichen Wohlbefinden beseitigen zu können, muß man zunächst einmal eine richtige Diagnose zu stellen imstande sein, um dann – rerum cognoscere causas – nach Ermittlung und sicherer Erkenntnis der Ursachen die Axt an die Wurzel des Übels zu legen. Die intensive Beschäftigung mit dem scheinbar Neben-sächlichen weist oft auf die richtige Fährte und ermöglicht und schärft darüber hinaus den Blick für größere Zusammenhänge, und diese Einsicht führt todsicher zum happy end unseres Lebens, wenn wir uns ehrlich und unbefangen die ernste Frage beantworten, die ich als sechsjähriges i-Männchen im Kleinen Katechismus als erste las und die so einfach klingt und doch so vielen von uns zeitlebens Kopfschmerzen macht. Die Frage aber lautet:
WOZU SIND WIR AUF ERDEN?
Wir haben, wenn wir uns recht erinnern, keineswegs verschwiegen, daß sich bei Thaddäus Thymian anfänglich bedenkliche Symptome eines Anfluges leichter Malaise deutlich abzeichneten und für das Erregen von Mißvergnügen unter anderem ein keifendes Weib, Störungen im Urogenitaltraktus und das heute fast allgemein allerorts üblich gewordene Sich-gehen-lassen in Betracht gezogen. Zu Unrecht, denn obwohl oder vielleicht gerade deswegen, weil uns Freud und van de Velde allzeit böhmische Dörfer blieben, wurden wir sehr bald gewahr, wo der Hase im Pfeffer lag. Kerle nämlich, die wie Thaddäus Thymian noch natürlich empfinden und klar denken, meistern souverän oft die schwierigsten Situationen und machen niemandem gegenüber ein Hehl daraus, was ihnen zusagt, gleichgültig bleibt oder mißfällt, während die Verbildeten, die sich selbst so gern für die Erfinder besserer Pulversorten halten, nur widerwillig Farbe bekennen, Angst vor der eigenen Courage haben, am liebsten auch dann im breiten Strom schwimmen, selbst wenn das schon aus hygienischen Gründen völlig indiskutabel ist und, sollten sie sich einmal und ausnahmsweise zu einem Entschluß aufraffen, aus angeborener Ungeschicklichkeit oder anerzogener Instinktlosigkeit mit nachtwandlerischer Sicherheit auf das falsche Pferd setzen.
Für Thaddäus Thymian jedoch wurde ein Namensschild aus blankgeputztem, gelb glänzenden Messing zum Blech des Anstoßes. Es war mit vier massiven Haltestiften in die rechte Sandsteinsäule des hochherrschaftlichen Hausportals so fest, haltbar und akkurat eingedübelt, wie es eben bei den alten, echten Handwerksmeistern ganz selbstver-ständlich war. Die empire-ähnliche Säule, die das schmiedeeiserne, etwas knarrende Tor trug, war zum Abschluß mit einer Sphinx verunziert, deren Brustwarzen lockere Galgenvögel von Zeit zu Zeit mit einer knallroten Farbe von dem grauen Sandstein zu kontrastieren, als entspannendes Hobby ansahen. Das Messingschild aber sah so aus:
Dr. Habakuk Müller-Quasebarth
o. Professor
Thaddäus Thymian, indigniert: „Bei Null Null weiß jedes Kind, um was es sich handelt. Mit Null Punkt Professor[2] kann ich aber beim besten Willen nichts anfangen. Was bedeutet hier die Null?“
Ich, betont verbindlich: „Verzeihen Sie bitte, die Null gilt hier als ein o, o wie ordentlicher Professor.“
Thaddäus Thymian: „Wie merkwürdig, daß ich einen ordentlichen Professor für eine Null halten konnte!“
Ich: „Das ist gar nicht so absonderlich. Das tun andere kritisch denkende Leute auch. Da befinden Sie sich in guter Gesellschaft.“
Thaddäus Thymian: „Daraus mache ich mir gar nichts. Die Erfahrung lehrt, wie vorteilhaft es ist, auf jeden engeren Kontakt mit der sogenannten Hautevolee grundsätzlich zu verzichten. Sie ist verstaubt und klatschsüchtig, fade und so langweilig, daß selbst ihre chronique scandaleuse auch als Manifestation gegen die innere Unwahrhaftigkeit einer Kaste und als Protest gegen überholte, dünkelhafte Begriffe und hoffärtige Anschauungen jeglichen Reiz verloren hat.“
Ich: „Urteilen Sie nicht zu aggressiv?“
Thaddäus Thymian: „Sie halten nach den Geschehnissen der letzten fünfzig Jahre noch für angriffslüstern, was mir aus Selbsterhaltungstrieb als notwendige Skepsis erscheint. Übrigens möchte ich im Augenblick viel lieber von Ihnen wissen, aus welchem Grunde dieser Habakuk ausdrücklich hervorzuheben beliebt, daß er ein ordentlicher Professor ist. Gibt es denn so viele unordentliche Lehrer an Deutschlands hohen Schulen?“
Ich: „Das mag in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben, denn in diesem speziellen Falle will sich der Messing-Blech-Schild-Besitzer nur von seinen außerordentlichen Kollegen distanzieren.“
Thaddäus Thymian: „Das ist lobenswert, weil es bescheiden ist, denn bei uns Menschen rangiert das Ungewöhnliche und das Außerordentliche vor dem Braven und Biederen und vor dem Alltäglichen und Ordentlichen.“
Ich: „Bei den Professoren gilt aber, wenn ich mich nicht irre, die umgekehrte Kleiderordnung.“
Thaddäus Thymian: „Genug davon, sonst bleibt mir noch die Spucke weg, und ich werde managerkrank. Wechseln wir das Thema!“
Ich: „Was halten Sie sonst von Quasebarth?“
Thaddäus Thymian: „Jurist ist er nicht. Der des Rechts vermeintlich Kundige hält sich wie Josef in Ägypten für mehr als seine Brüder. Das jur. hinter seinem Dr. blickt etwas snobistisch auf die cetera misera plebs academica herab. Der echte deutsche Paragraphen- und Pandektenreiter ist daran unzweifelhaft erkennbar, daß er lieber auf alle erlaubten Freuden des Lebens verzichtet, als den hohen Stand seiner Einbildung nicht vor aller Welt kündbar werden zu lassen. Vielleicht ist Habakuk ein Schmalspur-Akademiker. Die rer. pol. und ähnliche Leute machen mit Recht und wohlweislich von der Qualität ihrer Graduierung keinerlei Aufhebens.“
Ich: „Der ansprechende Vorname Habakuk verleiht auch einem nicht ganz ungewöhnlichen Familiennamen eine gewisse Eigenständigkeit.“
Thaddäus Thymian: „Zumal der Müller schon durch den Quasebarth aus der Anonymität der Masse emporgehoben würde.
A propos, wie deuten Sie den Namen Quasebarth?“
Ich: „Ganz einfach: Quasselbarth.“
Thaddäus Thymian: „Das klingt plausibel, gibt es ähnliche Beispiele?“
Ich: „Mehr als der Laie vermutet. Der primitiv undiplomatische NS-Außenminister Ribbentrop pumpte sich von einer Tante die drei kleinen Buchstaben von und gab sie als eigene Crescenz aus. Für einen Sektreisenden mag der adoptierte niedere Adel vielleicht nützlich sein, dem Mangel an Klugheit und Weitsicht eines Mannes, der die auswärtige Politik eines mittleren Staates steuern soll, hilft er nicht auf, ebenso wenig, wie auf die geistige Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit der Parlamentsabgeordneten die Höhe der Diäten von Einfluß sein kann, auch wenn dies fälschlich behauptet wird.“
Thaddäus Thymian: „Einverstanden, aber Ribbentrop hat was dazugemogelt. Führen Sie nun noch bitte ein einprägsames Beispiel für die Weglassung von Buchstaben an, und dann machen wir für heute Schluß. Wir geraten ja sonst mit Recht in den Verdacht, selbst Quasselbärthe zu sein.“
Ich: „Mein Freund Augustin Wibbelt[3] berichtet von einem römisch-katholischen Pfarrer, der des besseren Klanges halber auf den letzten Buchstaben seines Namens, auf ein kleines, unscheinbares s wie Siegfried, verzichtete.“
Ich zückte mein Notizbuch, schrieb etwas hinein, riß das Blatt heraus, faltete es zusammen und reichte es Thaddäus Thymian. Bevor er es lesen konnte, hatte ich mich überraschend formlos und schnell von ihm verabschiedet und spornstreichs das Weite gesucht. Ich hörte nur noch ein schallendes Gelächter. Der Pfarrer hieß nämlich: – sit venia verbo[4], aber ich kann’s beim besten Willen nicht ändern – F u r t h s.
Finis coronat opus, wird der Leser denken, wenn er mich verstanden hat und ihm die Humaniora nicht fehlen.
[1] Bernhard Rottendorff (1595-1671) war Arzt in Münster, veröffentlichte verschiedene Abhandlungen über Botanik, Medizin und Geschichte; unter anderem schrieb er die Einleitung zu den Monumenta Paderbornensia Ferdinands von Fürstenberg, verfaßte auch Gedichte, war eifriger Sammler seltener Handschriften und besaß reiche Kenntnisse in der Literatur des Altertums. Mit vielen einflußreichen Männern seiner Zeit stand er in vertrautem Verkehr und war Leibarzt des Fürstbischofs Bernhard von Galen und vieler anderer regierender Fürsten.
Vgl. Driver, Frdr. Mathias, Bibliotheca Monasteriensis. Monasterii 1799, S. 125.
Lehmann, P., Aus dem Leben, dem Briefwechsel und der Büchersammlung eines Helfers der Philologen; im: Archiv für Kulturgeschichte. Band 28. (1938) S. 163-190. Geisberg, Max, Quellen zur Kunstgeschichte der Lambertikirche in Münster, Münster 1942, S. 46 und ders. Die Stadt Münster VI. S. 112. Müller, Eugen, Die Begräbnisstätten der Stadt Münster, Münster 1928, S. 23 ff. – Westfälische Zeitschrift X. S. 80; XIII. S. 291; XIV. S. 263. XXX. S. 73 u. a. Das Gedicht befindet sich unter Nummer 89 in der Antwerpener und in der Pariser Ausgabe; unter Nummer 88 in der Amsterdamer Ausgabe. (Aus: Westfälische Zeitschrift – Zeitschrift für Vaterländische Geschichte und Altertumskunde – 108. Band, 1958)
[2] Unser Zeitgenosse Habakuk Müller-Quasebarth ist ein Geschöpf der Phantasie. Eine etwaige Ähnlichkeit in bezug auf seinen Namen, seinen Charakter oder seine Eigenart ist daher rein zufällig und völlig unbeabsichtigt.
[3] Augustin Wibbelt „Der versunkene Garten“.
[4] Verzeihen Sie bitte!