Herkunft
Eine glückliche Kindheit – Andreas Rottendorf wurde sie zuteil. Er wird 1897 auf dem „Schultenhof“ in Ennigerloh in der Dorfbauerschaft Beesen geboren. Er selbst nannte sich später gelegentlich „Schulte Rottrup“, um seine bäuerliche Herkunft und Prägung zu betonen. Die Familie ist seit etwa 700 Jahren in Ennigerloh ansässig. Auch die im 17. Jahrhundert hauptsächlich in Münster wirkenden Ärzte und der bekannte Humanist Bernhard Rottendorf sen. und jun. werden der Familie zugerechnet.
Von jung auf an
Sah ich den hohen Himmel
Die Wälder, Kämpe, Bach und Brücke,
Die Teiche, Hecken
Und den schweren Boden,
Der auch die goldnen Ähren trug
Und lebte hier
Und war geborgen
Ganz ohne Sorgen
Und heut’ noch danke ich
dem gütigen Geschick
Für eine unbeschwerte Jugend
Die heile Welt erlangt Risse, als Andreas Rottendorf 13 Jahre alt ist. Seine Mutter verkauft den von ihm so geliebten, 500 Morgen großen Hof an die Zementindustrie, die sich in Ennigerloh immer weiter ausbreitet. In zahlreichen Gedichten greift Rottendorf später diesen unwiederbringlichen, von ihm nie verwundenen Verlust auf. Der durch den Verkauf erlöste Gewinn fiel vollständig der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg zum Opfer.
Im Ersten Weltkrieg wohnte seine Mutter wieder in Ennigerloh, zunächst auf Bauernhöfen in der Nachbarschaft der früheren eigenen Hofstelle. Dort wurde sie von Andreas Rottendorf bei Heimaturlauben in Uniform besucht. Später wohnte sie in einem noch vorhandenen Nebengebäude der ehemaligen Hofstelle, dem sogenannten Brauhaus, und im Ortskern von Ennigerloh. Der Hof wurde vermutlich in den 1970er Jahren vollständig abgerissen. Heute befindet sich auf dem Gelände eine Abfalldeponie.
Ein Dokument zur Hofgeschichte
„Im Kirchspiel Ennigerloh liegt der uralte Hof Rottendorf (Rottrup). Auf dem Hof saß nachweislich schon im achten Jahrhundert das Geschlecht gleichen Namens. Der Name Rottendorf – im zwölften Jahrhundert urkundlich belegt mit Hrotmundingthorp und Rothmundingthorp – ist zweifellos der ältere, aus dem der Sprachgebrauch erst später Rottrup bildete. Der Hof hat seinen Namen weder zur Pestzeit, noch in der Choleraepidemie im Jahre 1868 gewechselt. Lediglich als das Geschlecht Rottendorf im Jahre 1785 wegen Kinderlosigkeit ausstarb, wurde der Hof vom Domkapitel in Münster der Christina Hoffschulte nach vorliegender Urkunde geschenkt. Christina Hoffschulte, Angelmodde, vermählte sich am 30. Mai 1786 mit Andreas Schulze Ennigerloh (Ennigerloh), der aber die Erlaubnis erhielt, den alten Namen Rottendorf weiterzuführen. Im Jahre 1910 wurde der Hof von der damaligen Besitzerin, Frau Josefine Antoinette Rottendorf, geb. Wilke, verkauft. Da er aufgeteilt wurde, ging er nach mehr als 1000jähriger Geschichte zugrunde. Der einzige lebende männliche Träger des Namens Rottendorf ist Andreas Josef Rottendorf, der als Besitzer und Leiter eines chemischen Unternehmens in Berlin lebt und an dem Geschick und der Geschichte seiner Vorfahren als Familienforscher regen Anteil nimmt.“ (Aus dem Archiv der Zeitung „Die Glocke“, Artikel vom 13.01.1939)
Dorfleben im Wandel
„Die Cement- und Kalkindustrie dehnt sich immer mehr aus. Die großen Cementfabriken und Ringöfen der Aktiengesellschaft Rhenania und der Gewerkschaft Grimberg und Rosenstein sind in flottem Betriebe, während die Cementfabrik der Gewerkschaft Elsa im Bau begriffen ist. Zwecks Errichtung weiterer Cementfabriken und Kalkringöfen sind in letzter Zeit zwei neue Aktiengesellschaften gebildet worden bzw. in der Bildung begriffen […]. Wie weit der Plan, auf dem Gute Rottendorf eine Cementfabrik zu gründen, gediehen ist, vermögen wir nicht zu sagen. – Die Industrie hat unsere Gegend, in welcher bis vor kurzem neben Landwirtschaft nur eine unbedeutende Kalkbrennerei betrieben wurde, ein ganz anderes Gepräge gegeben. Da ist jetzt ein Leben wie im Kohlenreviere. Während früher hier nur unser altes, gutes Platt gesprochen wurde, herrscht jetzt eine babylonische Sprachverwirrung. Italiener, Holländer, Polen sind reichlich vertreten. Handel und Schenkwirtschaft heben mit Mut und Kraft sich mächtig empor. Die Wirte, Bierbrauer und Branntweinbrenner machen ein Bombengeschäft. Neubauten schießen wie Pilze aus der Erde. Wer vom alten Ennigerloh noch einige Eindrücke retten will, der beeile sich, nach hier zu kommen. Die Zeiten ändern sich so gewaltig schnell, und bald wird unsere früher so friedliche Landgemeinde der reine Industrieort sein, worin Schlote, Wirts-, Waren- und Arbeiter-Häuser, Steingruben und Direktoren-Palais miteinander abwechseln.“ (Aus dem Archiv der Zeitung „Die Glocke“, Artikel vom 27.03.1900)
Andreas Rottendorf mit seiner Mutter
Boom der Zementindustrie
„1872 erfolgte die Gründung des ersten Zementwerkes in Beckum. Bis 1915 folgten (im Altkreis Beckum) weitere 29 […]. Die Zementproduktion erhielt einen weiteren Schub, als 1903 die Westfälische Landeseisenbahn das Revier über Lippstadt mit Warstein verband […]. Mit 32 Zementwerken im Jahre 1930 erreichte der Bestand sein Maximum: das Beckumer Revier galt als größte ‚Zementmulde‘ der Welt.“ (Rudolf Grothues in „Westfalen regional“)
Meuderken, mein Meuderken,
Nou sin ick so alläin,
Alltëid biss Du bi mi west
Tröü wöürst Du mi bis gans tolest,
Du unnern kaollen Stäin.
Meuderken, mëin Meuderken,
Mëin Hiät deut mi so wäih.
Alltëid hätt ett fö Di schlaon,
Daoch nou bliew et faken staon,
Datt’k Di nich mähr säih.
Meuderken, mëin Meuderken,
Du failst mi Dag un Nacht.
Wanners is’t auk Tëid fö mëi,
Praot staot de Briär äs fö Dëi,
Dann kuhm ick to Di sacht.
Schulzeit und Erster Weltkrieg
Andreas Josef Rottendorf besucht bis 1912 die Rektoratsschule (Laurentianum) in Oelde und wechselt dann an das Paulinum in Münster. Dort legt er kriegsbedingt 1916 vorzeitig das Abitur ab. Schon 1915 waren einige Mitschüler zum Militärdienst eingezogen worden, 1916 war es der ganze Jahrgang. Rottendorf entschließt sich, Offizier zu werden, um nicht, wie die meisten Klassenkameraden, in der Infanterie, sondern in einem berittenen Truppenteil eingesetzt zu werden. 1917, mit zwanzig Jahren, wird er zum Leutnant befördert. Es folgen Fronteinsätze in Belgien und Frankreich.
Nach Ende des Ersten Weltkriegs 1918 bleibt Rottendorf zunächst Soldat. Er besucht die Offiziersschule in Potsdam. Er ist in Danzig, Polen, Halberstadt, Stendal und Magdeburg stationiert. Anschließend lässt er sich nach Münster versetzen. 1922 scheidet er aus dem Dienst aus. Bereits im Jahr zuvor hatte er sich an der Universität Münster als Student der Rechts- und Staatswissenschaft immatrikuliert. Er bricht das Studium aber bereits nach kurzer Zeit ab. Im selben Jahr, 1922, heiratet er seine aus dem Elsass stammende Frau Rose Nierenberger (1899–1981) und tritt als Kaufmann in eine chemische Fabrik in Bückeburg ein.
Andreas Rottendorf als Student, 1914
Der Unternehmer
1925 zieht die Familie nach Berlin. Andreas Rottendorf arbeitet dort vermutlich als Direktionsassistent für die Chemischen Werke Fehmeyer und Nolting. Ende 1926/Anfang 1927 bezieht das Ehepaar nordwestlich von Berlin in Velten/Mark eine komfortablere Wohnung.
Durch Aktiengeschäfte und die Auszahlung einer Abfindung der Reichswehr verfügt Andreas Rottendorf über ein stattliches Kapital. Es bildet den Grundstein für sein späteres Vermögen. 1928 macht er sich selbstständig. Er kauft einem Apotheker die Produktionsstätte für Tabletten und Dragées ab. Es entsteht die Chemische Fabrik Rottendorf, die zunächst am ursprünglichen Standort erfolgreich produziert. 1933 investierte Rottendorf in einen Fabrikneubau in der Kaiserin-Augusta-Allee. Dort kann er im industriellen Maßstab Granulate, Tabletten und Dragées produzieren. 1939 hatte die Firma 50 Mitarbeiter.
Berlin ist damals das Mekka der deutschen Chemieindustrie. Die „große Zeit der Berliner Chemie“ hatte bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt. Sie währte knapp 100 Jahre. Bahnbrechende Entwicklungen hatten renommierte Forscher nach Berlin gelockt, was in der Vergabe von Nobelpreisen zum Ausdruck kam. Zwischen der ersten Nobelpreisvergabe 1901 und 1918 gingen sieben von 17 Chemienobelpreisen nach Berlin. Erst die Hyperinflation in der Weimarer Republik führte die aufsteigende Branche in eine Krise. Es kam zu zahlreichen Firmenpleiten, Zusammenschlüssen und Übernahmen. Diese Phase der Um- und Neuorientierung nutzte Rottendorf als Chance. Und die Zeitentwicklung war auf seiner Seite. Die Chemieindustrie erholte sich und gehörte bald wieder zur Weltspitze.
Der Zweite Weltkrieg
Der Zweite Weltkrieg verändert Rottendorfs Leben schlagartig. 1939 wird er zum Kriegsdienst eingezogen. Seine Frau übernimmt die Führung der Firma, die weiterhin floriert. 1943 wird die Fabrik durch einen Bombenangriff vollständig zerstört. Da das Unternehmen kriegswichtige Medikamente herstellt, wird die Produktion, in der auch russische Zwangsarbeiter aus dem Raum Kiew beschäftigt werden, 1944 nach Reichenbach/Vogtland zwischen Zwickau und Plauen in die Räume einer Zuckerfabrik ausgelagert. Auch hier kommt es zur Ausbombung. Die Produktion stagniert erneut.
Andreas Rottendorf nimmt am Ostfeldzug und der Eroberung Polens und am Überfall auf die Sowjetunion teil. Im Winter 1942/43 ist er auf der Krim stationiert. Nach eigener Aussage nimmt er „in ganz exponierter Stellung“ an der Bekämpfung von „Banden“ teil und sorgt für die „führungsmäßige Räumung, Lähmung und Zerstörung“ der Krim, was ihm militärische Auszeichnungen einbringt. Während des Rückzuges 1944 wird er in Rumänien und schließlich in Ungarn eingesetzt. 1945 gerät er in amerikanische Gefangenschaft, wird aber bereits zwei Monate später nach Neubeckum entlassen. Später distanziert sich Rottendorf nicht vom Soldatentum, nimmt aber eine entschiedene pazifistische Haltung ein.
Neustart nach 1945
Schon 1946 bemüht sich Rottendorf bei der Militärverwaltung darum, einen Betrieb in Ennigerloh eröffnen zu dürfen. Er kehrt jedoch zunächst wieder nach Berlin zurück. Dort mietet er eine Produktionsstätte in der sowjetischen Besatzungszone an. Aufgrund von Problemen mit den Besatzern kann er vorerst nur in kleinem Stil produzieren. Für kurze Zeit nimmt Rottendorf die Produktion in einer stillgelegten Schokoladenfabrik in Herford auf, da ihm in Westdeutschland noch keine andere Produktionsstätte zur Verfügung steht. Am 1. Juni 1949 kann die Produktion in der neuerrichteten Fabrik in Ennigerloh auf einem etwa 30.000 qm großen Gelände an der Ostenfelder Straße aufgenommen werden. Rottendorf hatte das Grundstück, einschließlich der Direktionsvilla, nach und nach erworben. Es bleibt unklar, wann Rottendorf endgültig von Berlin nach Ennigerloh zurückkehrt. 1956 ist sein Hauptwohnsitz noch in Berlin-Grunewald.
Andreas Rottendorf mit seiner Frau Rose (links) und seiner Schwägerin, etwa 1921
Der erfolgreiche Unternehmer
In den 1950er Jahren zählt das Unternehmen schnell wieder zu den führenden deutschen Arzneimittel-Herstellern. In den nächsten Jahren sind Rose und Andreas Rottendorf viel auf Reisen. Das Ehepaar reist von seinem Berliner Produktionsstandort aus nach Ungarn, in den Schwarzwald, nach Frankreich, Oberschlesien und immer wieder nach Westfalen, dem sich Andreas Rottendorf zeitlebens eng verbunden fühlt.
Der Privatmensch
Andreas Rottendorf wird als „kantige“, eigenwillige Persönlichkeit und strenger Firmenchef beschrieben. Als bodenständige und „ehrliche Haut“ wurde er weithin geschätzt. Er fuhr kein Auto und war in Ennigerloh meist mit dem Fahrrad und oft auch mit dem Pferd unterwegs. Beim Studium der literarischen Texte Rottendorfs „entstand im Laufe der Arbeit aus vielen Mosaiksteinchen das schillernde Bild einer – auch widersprüchlichen – Persönlichkeit, die man nicht in einem kurzen Satz beschreiben kann“ (Heinrich Schürmann).
Naturverbundenheit
Schon in seiner Zeit in Bückeburg soll sich Rottendorf erst richtig heimisch gefühlt haben, nachdem ihm seine Eltern seine Flinten nachgeschickt hatten. Seit 1937 hat er eine eigene Jagd in Ungarn gepachtet. Er jagt auf Rügen und wohl auch in der Umgebung von Berlin. Nach dem Zweiten Weltkrieg spielt die Jagd im Leben Rottendorfs weiterhin eine wichtige Rolle. Fotos Rottendorfs und auch seine Gedichte weisen ihn als Naturfreund aus. In seinem Gedichtband Ick sinn de Fink, ick sing beschäftigte er sich mit der von ihm so geliebten Vogelwelt.
Literarischer Werdegang
Als 1956 Andreas Rottendorfs erstes Buch erscheint, ist der Verfasser bereits 59 Jahre alt und steht am Ende eines aufzehrenden Berufslebens. Der Gedichtband Düörgemeus enthält Lebensweisheiten, persönliche Erinnerungen und Bekenntnisse zu seiner „Muttersprache“, dem Plattdeutschen. Meinungsstark fordert der Autor den Erhalt des Niederdeutschen und Volkstümlichen, Heimatlichen, ein. Hinzu kommt eine selbstbewusste Haltung gegenüber dem Staatsapparat: Übe Widerstand, wo es notwendig ist, so sein Credo, und mit Blick auf den Alltag: Lasse dich nicht vom Luxus blenden und besinne dich auf Tugenden wie Fleiß, Toleranz, Aufrichtigkeit und Menschenliebe, durchweg christliche Werte also. Rottendorfs Zeitkritik ist durchgängig „scharf“ formuliert und bezieht eine klare Position – Drumherumreden ist nicht Sache dieses Autors. Hinzu kommen Beobachtungen über die geliebte Natur- und Tierwelt.
Rottendorfs Buchveröffentlichungen im eigenen „Contra torrentem“ – Gegen den Strom – Verlag zeigen: Hier ist niemand, der sich auf dem literarischen Parkett behaupten will, niemand, der einen Kontakt zur literarischen Szene sucht. Rottendorf schreibt in erster Linie für sich selbst, einen engen Freundes- und Bekanntenkreis und sein lokales Lebensumfeld. Seine Gedichtbände waren Mitbringsel, mit denen er auch seine Geschäftspartner überraschte und nachweislich auch beglückte. Eine Spur „Sendungsbewusstsein“ ist sicherlich ebenfalls im Spiel: Rottendorf will auch andere an seinen Gedanken und Lebensweisheiten teilhaben lassen. Seine Texte werden durchweg positiv aufgenommen, auch von prominenten Stimmen in der Tagespresse und einschlägigen Rezensionsorganen. Rottendorf hat die positiven Urteile sorgfältig im Nachlass verwahrt – eine gewisse Autoreneitelkeit ist auch ihm nicht abzusprechen.
Rottendorfs Texte sind primär von der eigenen Gedankenwelt geprägt. Es geht dem Verfasser nicht um die ästhetische Qualität seiner Texte, sondern um ihre moralisch-menschliche Botschaft. Für den renommierten niederdeutschen Warendorfer Autor Anton Aulke zeigen Rottendorfs Verse „einen völlig originalen Dichter und Schriftsteller, bei dem von einem Einfluß irgendwelcher schreibenden Vorgänger oder Zeitgenossen durchaus keine Rede sein“ könne. Aulke fährt fort: „Sicherer Blick, reiche Erfahrung und abgeklärte Lebensanschauung befähigen Rottendorf dazu, über die vielfach verschlungenen Wege menschlicher Existenzen […] stets etwas Gültiges zu sagen. Gerechtigkeit, Sittlichkeit, geistige und körperliche Gesundheit sind ihre Leitsterne. Humor und Satire geben ihnen zusätzliche Würze. Knappheit und Treffsicherheit des Ausdrucks sowie oft überraschende Pointen sind ihre formalen Vorzüge.“
Aulke charakterisiert Rottendorfs Gedichte als „verhalten“, „spröde“ und „herb“. Sie seien „weit entfernt von jeder billigen Sentimentalität“ und kämen „aus einem tieffühlenden Herzen“. In ihrer inneren und äußeren Form seien sie „absolut originell“. „Schlicht in der Sprache, wirken sie oft durch eine zarte, hauchfeine Symbolik.“ Damit sind Grundzüge auch anderer Beurteilungen benannt.
Fragt man nach Rottendorfs literarischer Inspiration, muss der Name des in Vorhelm lebenden niederdeutschen Priesterdichters Augustin Wibbelt fallen. Mit ihm pflegte Rottendorf nach 1945 ein nachbarschaftliches Verhältnis, unter anderem bezeugt durch eine Widmung Wibbelts in einem Exemplar seiner Hilligenbeller, das er Rottendorf im April 1943 zueignete: „Andreas J. Rottendorf freundschaftlich gewidmet vom Verfasser Dr. Augustin Wibbelt“.
Rottendorf schreibt sowohl hochdeutsche als auch niederdeutsche Texte. Das Hochdeutsch bleibt den eher kritischen Tönen vorbehalten, während das Niederdeutsche nostalgischere Züge zulässt. Rottendorfs Werke erscheinen in einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne in hoher Schlagzahl. Sie werden von der westfälischen Literaturwelt durchaus wahrgenommen und positiv beurteilt: Als eigene, unverwechselbare Stimme.
In Rottendorfs Selbstwahrnehmung nehmen seine plattdeutschen Texte einen besonderen Stellenwert ein. Sie sind ein persönliches Bekenntnis zum Westfälischen und der von ihm so geschätzten „Muttersprache“.
Kontakte zur Lokalpresse
Andreas Rottendorfs Nachlass im Kreisarchiv Warendorf zeigt, dass der Autor nicht die große Literaturwelt vor Augen hatte. An großen Debatten, wie sie seinerzeit etwa von der Gruppe 47 angestoßen wurden, nahm er keinen Anteil. Er schreibt klassische „Gedankenlyrik“. Seine Texte sind vorrangig kurz und oft dem Augenblick geschuldet.
Rottendorf fand sichtlich Gefallen am Veröffentlichen. Und das nicht nur in Buchform. Auch in der Lokalpresse ist er – wiederum meist mit Aperçus aus dem Alltag – mit zahlreichen Gedichten vertreten. Die Tageszeitungen „Die Glocke“ und die „Westfälischen Nachrichten“ sind Teil seiner literarischen Heimat. Rottendorf hat über diese Beiträge akribisch Buch geführt. Gegenüber den Redaktionen der beiden Blätter trat er bei der Übersendung neuer Beiträge geschäftsmäßig-selbstbewusst und durchaus mit Nachdruck auf. Die Zeitungen nahmen die Beiträge gern auf. Sie waren willkommene Füllsel für die Unterhaltungsseiten am Wochenende – nicht zu lang, mit einem gewissen Hintersinn und gern auch humoristisch gefärbt. Kleine Stolpersteine, die eher beiläufig daherkommen und vielleicht durch diese Unaufdringlichkeit die erhoffte, zum Nachdenken anregende Wirkung entfalten. In den „Westfälischen Nachrichten“ erscheinen sie unter der eigens ihm zugedachten Rubrik „Gedankensplitter“.
Der Nachlass im Kreisarchiv Warendorf
Mit Blick auf Rottendorfs literarischen Nachlass im Kreisarchiv Warendorf wird man einen regelrechten Schreibzwang attestieren dürfen. Der Bestand umfasst ohne die gedruckten Texte 2678 Gedichte in niederdeutscher und hochdeutscher Sprache aus der Zeit nach 1950. Manche Gedichte liegen in unterschiedlichen Fassungen vor. Aber es bleibt eine stattliche Zahl von 1500 bis 1700 „Originaltexten“. Gedruckt liegen etwa 800 Gedichttitel vor. Die Fähigkeit zur Selbstkritik zeigt im Nachlass die umfangreiche Rubrik „Ausgeschiedenes“ mit verworfenen literarischen Versuchen.
Der Bestand spiegelt nicht zuletzt die Persönlichkeit des Autors wider. Rottendorf war, wie sein Nachlass zeigt, ein sorgfältiger Archivar, der sparsam mit Papier umging und „nichts verkommen ließ“. Seine Gedichte entstehen durchgängig handschriftlich – notiert mit Bleistift, Filzstift oder Kugelschreiber. Rottendorfs Handschrift ist klar und in der Regel gut leserlich. Er nutzt bevorzugt Ringbuchblätter und Stenoblöcke, was von vornherein den Gedanken an Sammlungen impliziert – es sollte nichts verlorengehen. Heinrich Schürmann stellte sein verdienstvolles „Andreas-Rottendorf-Lesebuch“ fast ausschließlich aus Nachlasstexten zusammen, die nicht in Buchform erschienen sind.
Späte Lyrik
Die Gedichte aus Rottendorfs letzter Lebensphase weisen einen durchgehend melancholischen, auch resignativen Grundton auf. Sie bieten eine Lebensbilanz ohne Illusion. Rottendorf betont seine Verbundenheit gegenüber dem Christentum, dem Heimatlichen und legt ein Bekenntnis zur Kunst ab.
Tod und Vermächtnis
Rottendorf starb am 20. November 1971 im Alter von 74 Jahren in der Universitätsklinik Münster. Bestattet wurde er in Ennigerloh, wo auch seine Eltern begraben liegen. Seinen Sarg ließ er aus einer alten Eiche fertigen, die auf dem Familienbesitz gewachsen war.
Sein Unternehmen wurde nach seinem Tod zunächst von seiner Frau Rose weitergeführt. 1974 wurde an der Ostenfelder Straße in Ennigerloh ein Neubau in Betrieb genommen. Der Wachstumskurs hält bis heute an. Aktuell beschäftigt die Firma mehr als 1.300 Mitarbeitende und ist weltweit tätig.
Die Leere
Was ich verlor,
gewann ich niemals wieder.
Was mir verblieb,
war kein Ersatz.
Die Zeit verging,
die Nebel fallen nieder,
ein dürres Blatt
liegt auf dem leeren Platz
Äin Gebiät
Blëiw bi mi, Här,
Wenn’t köller wätt
Un ick fank an to fraisen.
Blëiw bi mi, Här,
Wenn’k öller währ
Un in de Kindheit kwämm.
Blëiw bi mi, Här,
Wenn’t döüster is
Un ahl häwt mi velaoten.
Blëiw bi mi, Här,
Wenn’k daut gaohn mott
Un lett mi sacht nao Hous.
Amen! Dat hett up Döütsk:
So sall dat sëin,
Un jüsso wull’k ’t wull häbben
Über Andreas Rottendorf
„Sein kleiner Band Ick sinn de Fink, ick sing ist […] ein Beweis dafür, dass der Verfasser aus dem tiefstem Atem seiner Mundart lebt, dichtet und schreibt […]. So echt wie er denkt und schreibt ist auch das, was er seinen Vögeln in den Schnabel legt oder selbst von ihnen aussagt. Er kennt sie alle, vom ‚Niddelküningk‘ (Zaunkönig) bis zum ‚Kraonken‘ (Kranich). Was seine, meist nur aus wenigen Zeilen bestehenden Strophen wiedergeben, ist nicht das Quinquilieren, das Leichthin des Volksreims – es wird in jedem einzelnen Fall zur kurzen Darstellung der Wesenszüge, zu einer treffenden Charakteristik. Bei der Eigenart Rottendorf wundert es nicht, daß sich in diese Bilder immer wieder die Farbtöne allgemeingültiger, auf das Leben bezogene Wahrheiten und Weisheiten mischen. Darin […], in der Treue und Souveränität, mit denen die zugrunde gelegte Mundart behandelt wird, ist das Besondere dieser kleinen Vogelkunde und Vogellaudatio in Versen zu sehen.“
(Heinrich Luhmann)
„[Rottendorfs Bücher] zeigen den Autor als einen Mann von hohem geistigen Format […]. Trotz seiner westfälischen Abstammung und Eigenart, trotz seiner Liebe zur Heimat und zur niederdeutschen Sprache ist Rottendorf kein Heimatpoet im engen Sinn, sondern er ist in seinen Gedanken und Empfindungen durchaus Weltbürger […]. Der Kreis seiner Themen ist außerordentlich weit gespannt […].“
(Anton Aulke)
„Hier redete einer frei von der Leber weg. Und er tat es in einer unverwechselbaren Eigenart, die mit harter Kritik an den Zeitumständen oft nicht sparte. Immer aber stand bei Andreas J. Rottendorf über Ironie und Satire das befreiende Lachen, das aus einem gütigen Herzen kam. Mit streitbarer Feder meldete sich der Ennigerloher Fabrikant […] immer dann zu Wort, wenn er die Heimat bedroht sah. In seiner mannhaften, oft kantigen Art ist er nicht immer und jedem ein bequemer Partner gewesen. Bei aller Eigenwilligkeit aber meinte er es ehrlich und ging, faden Kompromissen abhold, allein den Weg, den das Gewissen ihm befahl. Auch mit diesen Charakterzügen gehörte Andreas J. Rottendorf zu den Letzten einer Generation, der die Sache der Heimat noch am Herzen lag, ihr Aufgabe und Verpflichtung bedeutete.“
(Ulrich Gehre, langjähriger Redakteur der Zeitung „Die Glocke“ und Förderer des Kulturguts Nottbeck)
„Wenn überhaupt das Gemüt noch mit der Sprache erreichbar ist, dann mit der Muttersprache, die einem Manne vom Schlage eines Andreas J. Rottendorf Teil seines eigenen Ichs geworden ist, deren selbstverständliche Beherrschung ihm dazu verhilft, ihre verborgenen Schönheiten zuchtvoll ans Tageslicht zu holen. Daß ihm die Geheimnisse der Dichtkunst vertraut sind und daß er sich davor zu hüten weiß, Hochdeutsches ins Plattdeutsche zu übersetzen, bestimmt den Wert seiner Lyrik, die alles andere als kopiert erscheint. So sind es immer wieder die kleinen und unscheinbaren Dinge, die ihn zum Nachdenken anregen und in denen er das Wirken der Natur, das Leben zwischen Werden und Vergehen beobachtet, um in der moralischen Nutzanwendung seinen Mitmenschen heilsame Lehren auf den Weg zu geben. Die kleine Blume oder der armselige Wurm am Wegesrand sind ihm bedeutend genug, als Geschöpfe göttlicher Natur ans Tageslicht geholt zu werden, weil im Verborgenen der Glanz des Lebens eher zu finden ist als auf den lauten Gassen.“
(aus der damaligen Tagespresse)
„Er war tief in seiner Heimat verwurzelt und besonders ihrer Sprache, dem Plattdeutschen, verbunden: Andreas J. Rottendorf (1897–1971), originell-eigenwilliger Münsterländer, tüchtiger Unternehmer, aber auch verdienstvoller Kulturförderer und beachtenswerter Autor […]. Die Kinder- und Jugendjahre auf diesem Hof haben ihn geprägt; sie waren die Quelle seiner Verbundenheit mit den Menschen des Münsterlandes. ‚Mehr sein als scheinen‘ und ‚Viel leisten – wenig hervortreten‘: das waren die Devisen seines Lebens […]. Er schrieb selbst Gedichte in der Mundart des Münsterlandes, feinfühlig und bilderreich […]. Auch die hochdeutschen Schriften Rottendorfs – Erzählungen, Anekdoten, Zeitkommentare, Betrachtungen, Gedichte, Epigramme – lassen einen unabhängigen, mitunter eigenwilligen Beobachter und Kritiker erkennen, der sich modischen Tendenzen und billigem Zeitgeist nachdenklich entgegenstellt.“
(Siegfried Kessemeier)
„[Rottendorfs] plattdeutsche Texte haben ihre besondere Qualität darin, dass sie authentisch sind. Wenn Rottendorf konkrete Anlässe, Begebenheiten, Beobachtungen reflektiert, wenn er wirkliche Orte, Personen, Typen beschreibt und sich im ungekünstelten Niederdeutsch bewegt, zeigt er seine besonderen Originalitäten. Verblüffend ist einerseits die klare Analyse der Realität, der Umwelt, des Gebarens seiner Mitmenschen – andererseits aber die Nähe zum Gefühlsbetonten, zum Heimat-Idyll, zur Schollen-Romantik; allerdings – wenn es allzu gefühlig wird, kontert er mit seiner lapidaren, lakonischen Art und versteckter Ironie.“
(Heinrich Schürmann)